Für Sibylle, EndExpo, Bauhaus Dessau, 18./19.05.2024

 

 

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Seltsame Jäger tragen ihre Beute in einen gotischen Turm hinein: ein lebendiges Schwein, ein Huhn, ein Hummer, Würste. Einer trägt Weinflaschen unter dem Arm, ein anderer hat Löffel und Gabel wie Bajonette auf den Rücken gespannt. Von oben, aus den Fenstern und Schießscharten, sieht man die Übersatten speien und defäkieren, um Platz für mehr Völlerei zu schaffen.

Diesen James Ensor schenkte Sibylle mir auf ihrem Sterbebett. Als ich sie kennenlernte, sie war meine Nachbarin, war sie schon von ihrer Krankheit gezeichnet. Wie zufällig erlebte ich ein paar ihrer letzten Stationen als Zeuge mit. Die letzte öffentliche Lesung, Sibylle war Schriftstellerin, das letzte Abendessen in größerer Runde, wo zwei Freunde so aneinandergerieten, dass die Fetzen flogen, was Sibylle herzlich amüsierte.

Manchmal dachte ich: sie hält mit ihrem scharfen, durchdringenden Blick, mit ihrer heiteren Hinterlist die Fäden des Geschehens in der Hand. Ihr Geist, der wirklich sprühte, verließ sie zuletzt. Ihr Körper verriet sie viel früher, Multiple Sklerose, und bereitete ihr Schmerzen, die so unerträglich wurden, dass Sibylle einen assistierten Suizid für sich erwirkte.

Ich wusste also schon: es würde meine letzte Begegnung mit ihr sein, als Sibylle mir den Ensor schenkte. Der lehnte in ihrem Wohnzimmer, wo das Krankenbett vor dem großen Schreibtisch aufgestellt war, auf einem Bücherregal, er war wie die meisten Bilder schon von der Wand genommen. Obwohl Sibylle noch in ihrer Wohnung war, und auch in ihrer Wohnung sterben würde, hatte sie begonnen, ihren Hausstand aufzulösen.

Die Liebe zu Ensor teilten wir. Sibylle hatte über Ensor geschrieben: Essais, Katalogbeiträge. So verbrachten wir unsere letzte Begegnung damit, über seine Kunst zu sprechen. Am Ende meinte sie: ›Fritz, ich möchte, dass du den Ensor mitnimmst, ich schenke ihn dir.‹
Für einen Augenblick wusste ich nicht, ob ich ein so wertvolles Geschenk annehmen könnte, aber Sibylle sah mich verschmitzt an und fragte, an die Götter gewandt; ›Wird er einem solchen Geschenk auch gerecht werden?‹ Da wusste ich, dass es mir erlaubt war, ihn mitzunehmen.

Es ist merkwürdig: die Aura dessen, was gestorbene Hände geschaffen haben. Die Spur des Genius auf einem Blatt Papier. ›James Ensor, 1896‹, so hat er die Radierung mit Bleistift signiert. Ich hängte sie in meiner Wohnung auf, Sibylle hatte sie sehr schön rahmen lassen, und spürte die Anwesenheit der Geschichte. Als sei auch ich wirklich ein Teil von ihr. Wenn ich am Schreibtisch saß und zeichnete, spürte ich Ensors feine Zeichnung im Rücken und zeichnete selbst feiner, subtiler. Es war, als gingen Strahlen aus von diesem einfach-heiter-bösem Blatt, das so viel mehr enthielt als der erste Blick vermuten ließ.

Und ich stellte mir Ensor vor: wie er dasaß, in seiner berühmten Wohnung in Ostende, angefüllt mit Bildern, Masken, Möbeln, oder in der Werkstatt des Druckers, den Geruch von Druckfarbe und Petroleum in der Luft, und mein Blatt signierte. Beiläufig. Und ich stellte mir seine Hände vor dabei…

Ein paar Tage später kamen die Anrufe und die Nachrichten. Sibylles Freundinnen, die, da sie kinderlos war, ihr Erbe verwalteten, meldeten sich bei mir. Der Ensor, sagten sie, sei längst einer von ihnen versprochen worden, und es sei ungeheuerlich, was sich am Bett einer Totkranken abgespielt hatte. Ich war verwirrt: Sibylle war mir ganz klar vorgekommen und wir hatten so lange über Ensor und seine Radierung gesprochen, dass mir nie der Gedanke gekommen wäre, ich hätte ihre Verwirrung und Krankheit ausgenutzt, um mir ein Erbe zu erschleichen, das mir nicht zustand.

Der Notar würde sich bei mir melden, hieß es. Auch testamentarisch sei der Ensor längst erfasst. Rechtliche Schritte würden folgen. Ich erkundigte mich selbst bei einem Notar, einem anderen Nachbarn, doch für ihn stand fest, dass die Schenkung eines Menschen, der nicht gerichtlich entmündigt wurde, nicht anfechtbar ist. Die Krankheit mag Sibylles Entscheidung beeinflusst haben, aber sie hat ihr nicht die Freiheit zu ihr genommen. Im Gegenteil: die Frau des Notars, eine Rechtsanwältin, die selbst unter Multiple Sklerose leidet, wurde fast zornig. Sibylles Freundinnen missbrauchten die Krankheit in ihren Augen, um sich über Sibylles Willen hinwegzusetzen.

Auch die Freundinnen müssen sich rechtlich beraten lassen haben, denn ihr Ton wandelte sich. Keine entrüsteten Forderungen, sondern inständige Bitten, diese Situation doch irgendwie zu lösen. Sibylle war noch am Leben, aber ich wurde gebeten, sie ja nicht zu involvieren. Einerseits leuchtete es mir ein, dass man die sterbende Sibylle nicht mit Kleinigkeiten behelligt. Andererseits machte es mich stutzig. Da ich wusste, dass ich Sibylles Entscheidung folgen würde, schien es mir weder kompliziert noch unangemessen zu sein, sie zu fragen, wer den Ensor erhalten solle.

Der Termin ihres Todes hatte sich verschoben. Es gab irgendeine technische oder juristische Komplikation. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, ein Datum für seinen Tod zu wissen, das dann verschoben wird. Jedenfalls ging ich Sibylle doch noch einmal besuchen. Wenn sich die Gelegenheit ergeben würde, würde ich sie nach dem Ensor fragen. Als ich hereinkam, waren auch andere Freunde von ihr da. Ein höflicher älterer Herr, ein Studienfreund Sibylles, auch Schriftsteller. Sibylle aber war tatsächlich total verwirrt. Sie verwechselte den Tag und die Stunde. Ich verabschiedete mich bald wieder und wusste, dass ich den Ensor nicht behalten würde.

Den Damen, die sich um das Erbe ihrer sterbenden Freundin gezankt hatten wie die Skelette auf manchen von Ensors Bildern um einen Fisch oder einen Erhängten, wollte ich den Ensor aber nicht aushändigen. Es hätte sich nicht richtig angefühlt. Denn wo war Sibylles Wille wirklich? Mir schien, als wäre der Ensor nun seinen eigenen Weg gegangen, als hätte er sich zwischen den Klippen von Freundschaft, Trauer, Gier und Verlust hindurchgeschifft in einen Raum, in dem er nur sich selbst gehörte. So kam die Idee auf, Eulen nach Athen zu tragen.

In der Zwischenzeit war Sibylle gestorben. Ich nahm an der Beerdigung teil und sah manche ihrer Freundinnen zum ersten Mal. Sie vergossen Tränen am Grab und mich ergriff viel Mitgefühl. Natürlich kannten sie Sibylle länger und besser als ich. Aber ich hatte immer eine tiefe Verbundenheit mit ihr gespürt, und wären wir nicht auch alte Freunde geworden, wenn Sibylle länger gelebt hätte?

Der Ensor befindet sich jetzt in der Sammlung des Kupferstichkabinetts der Staatlichen Museen zu Berlin, als Schenkung in Andenken an Sibylle. Dem haben die Freundinnen zugestimmt. Als der Abend vor der Übergabe im Museum gekommen war, nahm ich den Ensor wieder von meiner Wand. Die Leerstelle schmerzte, und für einen Augenblick bereute ich, meinem eigenen Verlangen nicht nachgegeben zu haben. Den Ensor hätte ich selbst niemals fortgegeben, ich hätte ihn selbst einmal vererben können…

Ich stemmte den schönen Rahmen auf, den Sibylle hatte anfertigen lassen, nahm das Blatt heraus und zeichnete es mit Feder und Tusche ab. Dann setzte ich meine Kopie wieder in den Rahmen ein und hängte ihn an meine Wand. In einer Grafikmappe brachte ich Ensors Radierung am nächsten Morgen ins Kupferstichkabinett.

 

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Weird hunters are carrying their prey into a gothic tower: A living piglet, some fowl, a lobster, sausages. One is carrying wine bottles under his arms, another has spoon and fork strapped to his back like bayonets. From above, from the windows and embrasures, the stuffed feasters are vomiting and defecating to make room for more gluttony.

This James Ensor etching, Sibylle gave me on her deathbed. When I first met her, she was already marked by her illness. By coincidence, I became witness to some of her last stations. Her last public reading, Sibylle was a novelist, and her last dinner with a large group of friends, where two got into an argument so heated it turned briefly violent, which amused Sibylle to no end.

I sometimes thought that she was playing her environment like marionettes with her sharp, piercing looks, and her merry mischief. Her mind and spirit, which was fiery, was the last to leave her. Her body though betrayed her much sooner, with Multiple Sclerosis, which caused her pains so unbearable that she finally organized an assisted suicide for herself.

I knew, therefore, that it would be my last time seeing her, when Sibylle gave me the Ensor. It was propped up in her living room, where she was lying in a hospital bed in front of her large writing desk, leaning against the wall, having been taken down like most pictures already. Even though Sibylle was still in her apartment, and would also die there, she had begun to give away her possessions.

We shared a love for Ensor. Sibylle had written about him: Essays for her own collections and for exhibition catalogues. So we spent our last conversation talking about Ensor’s art. At the end she told me: ›Fritz, I want you to take the Ensor with you, it’s my gift.‹ For a moment, I wasn’t sure whether I could accept a gift so valuable. But then Sibylle looked around mischievously and asked the Gods: ›But will he live up to such a present?‹ That’s when I knew I was allowed to take it with me.

It’s strange: The aura created by now deceased hands. The trace of genius on a piece of paper. ›James Ensor, 1896‹, is how he signed the etching with pencil. I hung it up in my apartment, Sibylle had had it framed very nicely, and I felt the presence of history. As if I were really a part of it. When I sat at my desk, drawing, I felt Ensor’s delicate lines in my back and became more delicate, more subtle in my own lines. It was as if rays were emanating from this simple, joyful, evil image, which contained so much more than the first look would have you guess.

And I imagined Ensor. The way he would sit in his famous house in Ostende, filled with paintings, masks, furniture, or in the printer’s workshop, the scent of printer’s ink and petroleum in the air, and signing my etching. En passant. And I imagined his hands doing it…

A few days later, the calls and messages arrived. Sibylle’s friends, who were in charge of her inheritance for she was childless, got in touch with me. They said that the Ensor had long been promised to one of them, and that it was outrageous what happened at the bedside of a deathly ill woman. I was confused: Sibylle had been so clear-minded when we talked about Ensor and his etching in such detail, so the thought that I would have used her disorientation and illness to get my hands on the print never occured to me.

The notary would get in touch with me, they said. Also, the Ensor was included in her last will. Legal steps would be taken. I informed myself, asking a notary, who happens to be a neighbor as well, but for him the case was clear. A gift by a person who was not legally incapacitated cannot be contested. Her illness may have influenced Sibylle’s decision, but it had not taken away her freedom to decide. On the contrary: The notary’s wife, a lawyer who also suffers from Multiple Sclerosis, became almost furious. Sibylle’s friends abused the illness in her eyes to devalue Sibylle’s intentions.

They must have received legal advice themselves, for their tone changed. No outraged demands, but pleas followed to somehow resolve the situation. Sibylle was still alive, but I was asked to not involve her. On the one hand, it made sense to me not to bother Sibylle in her dying days with minor matters. But on the other hand, it made me skeptical. Since I knew that I would always follow Sibylle’s decision, it seemed to me to be neither complicated nor inappropriate to ask her what to do with the Ensor.

The date of her death had been delayed. There was some technical or legal complication. I don’t know what it feels like to know the date of one’s death, and then have it moved. In any event, I visited Sibylle one last time. If the chance offered itself, I would ask about the Ensor. When I came into her apartment, others were already there. A courteous older man who had known Sibylle from university and who was also a writer. But Sibylle was in fact confused. She did not recognize the day or the hour. I bid farewell quickly and knew then that I could not keep the Ensor.

But I did not want to hand it out to the ladies either, who had haggled over their dying friend’s possession like the skeletons on some of Ensor’s paintings, fighting over a herring or a hanged man. It would not have felt right. For what was Sibylle’s final will? It seemed to me as if the Ensor had gone its own way, shipping the cliffs of friendship, grief, greed and loss, to come to its own place, where it only belonged to itself. That’s how the idea evolved of sending owls to Athens.

In the meantime, Sibylle had died. I took part in the funeral and saw some of her friends for the first time. They were crying by the grave and I felt deeply for them. Of course they knew Sibylle much longer and much better than I did. But I had always felt a deep connection with her and would we not have become old friends also, if Sibylle had lived longer?

The Ensor is now a part of the collection of prints at the Berlin State Museums, as a donation in memory of Sibylle. Her friends agreed to this solution. When the evening before the handover at the museum had come, I took the Ensor from my wall. The empty space pained me, and for a moment I regretted not to have given in to my desire. I would have never given the Ensor away, and someone could have inherited it from me one day…

I opened the frame that Sibylle had had made, took out the print and copied it in pen and ink. Then I placed my copy back in the frame and hung it up on my wall. The next morning, I took the Ensor to the museum in a cardboard portfolio.